Āsana
– oder warum üben wir im Yoga Körperhaltungen ?
Die Erfahrungen, die wir während der Übungen machen, erwecken nicht nur den Körper zum Leben, vielmehr sprechen sie auch noch ganz andere Facetten unseres Selbst an. Mithilfe der Āsanas lernen wir uns Stück für Stück besser kennen und erlangen letztlich sowohl im Körper als auch im Geist jene Stabilität, die wir benötigen, um den Anforderungen des Alltags mit Gleichmut und Gelassenheit begegnen zu können.
Im Yoga Sutra des Patañjali, dem philosophischen Grundtext des heutigen Yoga, heißt es sehr kurz und prägnant, eine Haltung sollte: „Sthiram sukham āsanaṁ“ sein, also angenehm und fest zugleich. Weitere Erläuterungen zum wie und zu konkreten Haltungen, oder woher sie kommen und warum wir nicht „einfach“ nur einen stabilen Sitz üben, fehlen an dieser Stelle. Aber jeder, der schon einmal auf der Matte stand, kennt vielleicht dieses Gefühl von Anspannung und Astregung bei gleichzeitiger Fokussierung den Atem, das Leichtigkeit und Ruhe in Körper und Geist bringt.
In späteren Texten wird der Körperpraxis deutlich mehr Raum gegeben und erklärt, dass eine Āsana erst dann vollkommen ist, wenn die Anstrengung schwindet, und wir fokussiert unseren Blick nach innen richten, um in eine bewegte Form der Meditation zu kommen. Eine Āsana ist somit keine Haltung, die man statisch einnimmt, sondern vielmehr ein achtsamer Prozess, an dessen Ende ein Gleichgewicht zwischen Bewegung und Widerstand steht. Dies gilt für eine einzelne Haltung genauso wie für eine Abfolge von Āsanas, die mit entsprechender Ruhe praktiziert wird.
Mit der Ruhe ist es jedoch so eine Sache, denn in unserer heutigen Alltagsstruktur haben wir es weitestgehend verlernt, in Stille nur mit uns selbst zu sein. Unser Gedankenkarussel springt meist gerade dann blitzschnell an, wenn wir versuchen, ohne Ablenkung von außen für einen Moment ganz bei uns zu sein. Und hier setzt die Wirkweise der yogischen Körperpraxis ein: Sie erhöht nicht nur die Beweglichkeit und Stabilität des Körpers, sondern trägt vor allem dazu bei, den Geist besser zu kontrollieren, um weniger von unseren Gedanken bestimmt zu sein. Die tiefe Verbindung von Körper und Geist wird hier spürbar und sie ist nicht neu, denn gerade in herausfordernden Zeiten nehmen wir wahr, wie Stress und andere psychische Belastungen einen gravierenden Einfluss auf unsere körpereigenen, physischen Funktionen ausüben.
Der achtsame Umgang mit dem Körper und das beharrliche Üben der Āsanas kann uns auf wunderbare Weise dabei helfen, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Achtsamkeit ist dabei das Schlüsselwort und meint das bewusste Beobachten der Körperbewegungen und der Empfindungen in diesem Moment, ohne zu bewerten. Der innere Kritiker darf zur Ruhe kommen und Klarheit kann sich in uns ausbreiten. So paradox es klingt, aber die Aktivität der Āsanas hilft uns letztlich, die Aktivität loszulassen, Frieden mit uns selbst zu schließen und Ruhe im Geist trotz des ständigen Wandels im Außen zu bewahren. Gedanken oder Gefühle, die während der Praxis aufsteigen, gilt es ohne weiteres Hinterfragen zu akzeptieren, sie wahrzunehmen und loszulassen, wie sie sind.
Langfristig hilft uns die Āsanapraxis, Verspannungen sowohl auf physischer als auch auf psychischer Ebene zu lösen, denn jedem mentalen Knoten, ob verdrängte Wut, Trauer oder Enttäuschung, steht ein korrespondierender physischer, muskulärer Knoten in unserem Körper entgegen. Das heißt, dass wir durch die physische Praxis der Āsanas, nicht nur unseren äußeren Körper stabilisieren und kräftigen, sondern vor allem auch in tiefere, psychische Schichten unseres Daseins vordringen.
Wie bereits im ersten Beitrag beschrieben, mag körperliche Fitness für viele der Ausgangspunkt sein, um tiefer in die Welt des Yoga einzusteigen – das eigentliche Ziel aber ist es, mit sich selbst und der Welt in Einklang zu kommen, eine Balance von Körper und Geist herzustellen und innerlich zur Ruhe zu kommen. Und dabei ist nicht die äußere Form einer jeweiligen Haltung entscheidend, sondern die innere Haltung – eine Haltung, frei von Bewertungen, Vergleichen und dem Streben nach Perfektion. Im Yoga geht es nicht darum, der/die Beste zu sein, sondern SEIN BESTES zu geben, aus dem Herzen heraus zu praktizieren und vom Denken zum Spüren zu gelangen. Die Āsanas helfen uns auf diesem Weg von außen nach innen und lüften dabei Schritt für Schritt den Schleier, der unser wahres „Ich“ verdeckt – wir lernen uns innerlich und äußerlich aufzurichten, und nehmen diese erworbenen Haltungsmuster mit in den Alltag. Also lohnt es sich doch in jeder Hinsicht, immer wieder die Matte auszurollen für eine kleine Praxis zwischendurch