Remember

– oder „Die Erinnerung war, wie Erinnerungen sind. Flüssig. Sie schwamm vorbei. Teile glitten zurück, waren kurz greifbar und dann wieder weg.“ Dieses Zitat habe ich kürzlich in einem Buch gelesen und es hat mich so berührt, dass ich es hier umgehend an euch weitergeben muss. Es integriert in seiner knappen und klaren Form so vieles, was unseren Geist ausmacht, es bringt in meinen Augen komprimiert auf den Punkt, wofür im Yoga-Kontext oftmals unzählige Wörter verwendet werden, ohne je so präzise zu sein.

Im Yoga-Sūtra beschreibt Patañjali die verschiedenen Bewegungen unseres Geistes, wobei die Erinnerung (smti) eine mögliche Form der Bewegung neben anderen ist. Es ist die Art Geistbewegung, mit der ich selbst gerade besonders viel zu tun habe. Nach meiner Fuß-Operation vor einer Woche gehe ich zurzeit mit meinen treuen Gehilfen, den Gehhilfen durch die Welt – die allerdings zusammengeschrumpft ist auf meine häusliche Umgebung. Ich versuche, mich an völlig selbstverständliche, alltägliche Abläufe neu zu erinnern, um sie mit der gebotenen Achtsamkeit ausführen zu können. Achtsamkeit ist auch so ein Begriff, der gerade im Yoga schon beinahe inflationär für alles und jedes gebraucht wird, für mich aber aktuell eine ganz klare Botschaft hat: Sie heißt, Aufmerksamkeit und meint, Bewusstheit auf ALLE noch so kleinen Verrichtungen zu lenken. Im Grunde heißt es nichts anderes, als beständig im gegenwärtigen Moment zu sein – bei dem, was man gerade tut, ohne dass die Gedanken permanent ihre eigenen Runden in ganz anderen Sphären drehen. Vielleicht hast du ja Lust, es einmal selbst zu probieren, deine ganz Konzentration auf üblicherweise unbewusste Abläufe zu lenken und sie dadurch neu zu entdecken…?

Gehe ich, dann gehe ich mit meiner vollen Aufmerksamkeit. Ich erinnere mich an den genauen Ablauf, wie der Fuß aufzusetzen ist, welcher Fuß wann vorne sein muss und wie meine Arme diesen Prozess unterstützen können. Eine besondere Herausforderung ist das Treppensteigen, hier heißt es „Gesundheit geht vor“, also der gesunde Fuß zuerst und dann wörtlich step by step…Transportiere ich kleine Dinge in meinem Umhängebeutel durch das Haus, überlege ich, wo ich mich strategisch günstig positioniere, um Dinge abzustellen oder aufzunehmen. Ich überlege, welche Bewegungen auf welche Weise optimiert werden können, um nicht für jeden Schritt jeweils Gehhilfen und zu bewegende Gegenstände wechseln zu müssen. Alles, was normalerweise fast automatisiert ohne Überlegung erfolgt, benötigt im Moment Konzentration und Zeit. Für mich ist das eine ganz besondere, wertvolle und spannende Erfahrung. Sie erlaubt mir, für kaum wahrgenommene Alltagshandlungen einen (wieder) neuen unvoreingenommenen Blick zu entwickeln und so eine Haltung zu kultivieren, die den eigenen Horizont weitet für die unglaublich vielen Möglichkeiten, die wir auch bei Einschränkungen haben, unseren Alltag und unser Leben zu gestalten. Natürlich hilft mir auch das eigene Umfeld, Partner, Familie und Freunde nach Kräften – da heißt es für mich auch mal loszulassen und die gewohnte Eigenständigkeit durch die Annahme von angebotener oder erfragter Hilfe zu ersetzen.

Im Vorfeld der Operation habe ich mich auch gefragt, wann ich wohl wieder „Yoga machen“ kann… Was für eine Frage, wenn die Erinnerung vorbeischwimmt , dass schon Krishnamacharya gesagt hat „Jeder Mensch kann Yoga üben, solange er atmen kann“. Also sollte die Frage heißen, wann und wie Āsana-Praxis wieder möglich sein wird, denn für Atemübung und Mediation brauche ich meine Füße nicht. Die Antwort auf das wann und wie der Körperübungen ergibt sich inzwischen aus dem sich weitenden Horizont – mit entsprechender Kreativität können Übungen angepasst und verändert werden und ergeben zusammen mit den vielen Āsanas, die ohnehin noch möglich sind, wieder ein ganz neues Portfolio. Auch das erweitert meinen Horizont und lässt mich mit Dankbarkeit und Freude aber auch mit Demut auf meine jetzige Situation schauen. Das neue Jahr fängt für mich also mit einer ganzen Reihe neuer bzw. wiedergewonnener Eindrücke und Wahrnehmungen ziemlich gut an – wie beginnt es für dich? Ich hoffe, auch du bist noch nicht gleich wieder in deinem oftmals schon so vertraut gewordenen Hamsterrad gefangen.