Mit allen Sinnen

– ganz präsent im Hier und Jetzt.

Es verspricht ein heißer Tag zu werden heute, denn trotzdem es noch früh ist, hat die Sonne schon ordentlich Kraft. Ich breche auf zu einer kleinen morgendlichen Runde, die ich je nach Verfassung manchmal laufe oder walke. Obwohl ich die Strecke eigentlich sehr gut kenne, nehme ich heute Morgen so viele wunderbare Eindrücke wahr, dass es sich ganz neu anfühlt.

Nachdem ich den Straßenbereich mit Autoverkehr hinter mir gelassen habe, geht es auf landwirtschaftlichen Wegen ganz entspannt an wechselnden, oft von Bäumen gesäumten Feldern entlang. Am Wegrand stehen die üblichen Gräser, die durchweg schon eine recht einheitliche sommerliche Färbung haben und dazwischen finden sich vereinzelt Brennnesseln. Eine Brennnessel sticht mir dabei besonders ins Auge, denn sie hat ziemlich angetrocknete, leicht nach oben eingerollte Blätter. Das reicht aus, um mein Alltagsdenken in Gang zu setzen: Ich denke sofort an die aktuelle Trockenheit, die bestimmt mit dem Klimawandel zusammenhängt und bin schon fast dabei, ganz auf diesen Gedankenzug aufzuspringen. Es fühlt sich an wie ein kleiner Bruch, aber dann kann ich mich doch wieder auf das fokussieren, was mich direkt umgibt. Ich denke kurz an meine Yogalehrerausbildung, wo wir eine Übung gemacht haben, die „was siehst du?“ hieß und uns aufforderte, visuell wahrgenommene Dinge zu benennen, ohne sie zu interpretieren oder weiterzudenken. Obwohl das schon bestimmt 12 Jahre her ist, kommt mir genau das jetzt in den Sinn und ich beginne noch ein bisschen aufmerksamer zu schauen. Ich sehe zwischen all den gleichfarbigen, unterschiedlich hoch gewachsenen Gräsern zwei vereinzelte Mohnblumen stehen, die wie verirrte Farbtupfer aussehen und dahinter zwischen den Getreidefeldern eine kleine Bienenwiese mit ganz unterschiedlichen Blumen. Auf Kniehöhe bewegt sich ein Schmetterling in einem unorthodoxen Zickzackflug neben mir her. Als der Weg eine kleine Biegung macht verändert sich das Licht, denn Bäume spenden nun wieder ein wenig Schatten, der wie ein Flickenteppich auf den Weg fällt. Plötzlich steigt mir der Geruch nach frischem Holz in die Nase und ich sehe einen Stapel geschlagener Baumstämme, die bereits zur Weiterverwendung markiert wurden. Während ich das alles wahrnehme, läuft mir sanft ein kleiner, kühlender Schweißtropfen den Nacken hinunter und mir wird bewusst, was gerade alles gleichzeitig abläuft: Ich rieche, ich sehe, ich fühle und ich höre auch noch – nämlich ganz schnöde Motorengeräusche von der nahen Straße.

Und so geht es weiter, als ich die Straße gequert und hinter mir gelassen habe. Völlig unvermittelt erhebt sich neben mir aus einer kleinen Senke ein riesiger Greifvogel und verschwindet im angrenzenden Wald. War das ein Bussard? Ich kenne mich nicht gut aus, also wozu grübeln, der Eindruck zählt. Ich wechsele von einem asphaltierten Weg nun auf einen Schotteruntergrund, der meine Schritte ziemlich laut wiedergibt, so dass ich mein eigenes Tempo hören kann und mich eine Weile auf die Monotonie dieses Gleichklangs einlasse. In der Ferne sehe ich die Bewässerung eines Feldes und denke spontan wieder: Trockenheit, Klimawandel…. Aber auch hier schaffe ich den Rückzug und nehme einfach das wunderschöne Wasserspiel im Gegenlicht wahr. Fast zu Hause wechselt noch einmal der Untergrund – es wird leiser und weicher, ich gehe jetzt über eine Grasfläche und kann meine Schritte nur noch vereinzelt und gedämpft hören. Um mich herum saust eine Schar kleiner Vögel – frag nicht welche – die mich völlig übermütig und energiegeladen ein kleines Stück begleitet und mir ganz unvermittelt ein Lächeln ins Gesicht zaubert.

Am Ende meiner Runde spüre ich: Obwohl ich „nur“ ein Stück gegangen bin, habe ich doch eine ganz Menge erlebt und vor allem ganz bewusst gelebt. Heißt es doch allgemein, unsere Sinne sind die Tore nach außen, so habe ich diese Tore heute Morgen einmal ganz weit geöffnet.

So ein eigentlich unspektakuläres Erlebnis ist für mich wie ein Abtauchen und Auftanken. Für einen Moment raus aus all den sich überschlagenden Ereignissen des gegenwärtigen Alltags. Vielleicht gerade, weil es völlig unaufgeregt daherkommt und so einfach umzusetzen ist, fühlt es sich an, wie ein Mini-Kurzurlaub oder ganz einfach eine Meditation in Bewegung, die jeder immer und überall praktizieren kann – probiere es doch einfach mal aus und genieße mit allen Sinnen.